ARKONA
SCHRIFTBILDER 2011–2012
Der neue Zyklus von Kalligraphien trägt den Titel „Arkona. Könnten sie ein Foto von mir machen?“ Wie bereits in der Serie mit Schriftbildern zu Hanshan-Gedichten (2006/2007) dienten Texte mit Landschaftsmotiven als Vorlage. Alle Schriftblätter, hier in einer Auswahl vorgestellt, sind in traditioneller Weise Arbeiten mit Pinsel und Tusche auf Papier. Als Formate wurden 70 x 100 cm und auch 50 x 70 cm) gewählt. Die neuen Kalligraphien entstanden in den Monaten April bis September der Jahre 2011 und 2012 im Atelier Pratzschwitz.
Zur Entstehung: Zufällig entdeckte ich vor anderthalb Jahren den japanischen Ausstellungskatalog „Friedrich und sein Kreis“, Tokyo 1978. Die abgebildeten Kunstwerke, die dargestellten Orte, die deutschen Bildtitel – dies alles war mir vertraut. Die japanischen Bildunterschriften in Druckschrift aber betrachtete ich als Vorlage für eine weitere Art der Landschaftsdarstellung, für die Abschrift mit Pinsel und Tusche.
So lautet im Katalog die Bildunterschrift für eine lavierte Federzeichnung von J.W. v. Goethe: 魔女たちの月夜の呪文. Typisch für japanische Schriftzeichen, speziell die dem Chinesischen entlehnten Kanji (dt.: chin. Schriftzeichen), ist deren bildhafter Charakter. Die japanische Übersetzung des Titels „Mondbeschwörung“ enthält sechs solcher Kanji-Zeichen: 魔 Zauberei (麻 Hanf und 鬼 Geist), 女 Frau, 月 Mond, 夜 Nacht sowie 呪文 Zauberformel. Diese Kanji sind aus vielen einzelnen Strichen zusammengesetzt. Sie stellen innerhalb des Textes, umgeben von den Kana, den einfacheren alphabethischen japanischen Schriftzeichen, einen kompositorischen Schwerpunkt, eine Verdichtung dar. Die Verwendung der Kana erzeugt einen abwechslungsreicheren, offeneren und auch strukturellen, landschaftlichen Gesamteindruck der Schriftblätter. Hinzu kommt die Möglichkeit der Pinselschrift: lebendige, pulsierende Struktur insgesamt, als auch eine lebendige Binnenstruktur der Striche.
Auch Caspar David Friedrich hat die Landschaft unmittelbar „abgeschrieben“. Seine Ansichten in den Skizzenbüchern, topographisch genau, sind nicht weniger als „ein aus der Natur geholtes Gedicht“ [1]. Die danach im Atelier gemalten Ölgemälde der Dresdner Romantikers lassen sich als Anordnungen von Symbolen nach kompositorischen, geometrischen Prinzipien vor leerem Hintergrund verstehen: Berg, Stein, Baum, See, Mond, Mensch, Boote...
Im neuen Zyklus „Arkona. Könnten sie ein Foto von mir machen?“ [2], dessen Titel auf ein berühmtes Landschaftsmotiv von CDF verweist, stehen die Schriftzeichen der Schriftblätter ebenso nebeneinander angeordnet auf weißem Papier, dem leeren Grund. Dieser wird durch die Verschränkung mit den Zeichen definiert und – besonders durch deren ausgefransten Strichenden – zugleich aktiviert. Eine Komposition ist erkennbar, ebenso die durchgängige Rhythmisierung.
Alle Schriftblätter sind datiert. Durch diese numerische Ordnung wird die Reihenfolge bestimmt. So bleibt zudem der assoziative Weg durch die Katalogvorlage nachvollziehbar, desgleichen der Zusammenhang mit dem letzten Zyklus „Grundkurs“(2010/2011). Nacheinander gelesen, bilden die 36 Titel eine Art modernes Kettengedicht [3], wie das folgende Beispiel veranschaulicht. Die Schriftblätter 窓から下を見下ろしたり、本を読んだりしている内に、 飛行機はモスクワ空港に着きました。, in deutscher Übersetzung: „Während ich mal aus dem Fenster nach unten sah oder mal in einem Buch las, ist das Flugzeug auf dem Flughafen in Moskau gelandet.“ (aus Grundkurs) und das Blatt 公園の見える窓 „Fensterausblick mit Parkpartie“ aus dem aktuellen Zyklus enthalten beide die Kanji-Zeichen 窓 „Fenster“ und 見 „sehen“. Beide enthalten zudem einen historisch-geographischen Verweis auf Russland: Moskau beziehungsweise die Eremitage in Sankt Petersburg, in deren Sammlung sich das Blatt „Fensterausblick mit Parkpartie“ befindet.
Der neue Zyklus der Sprachblätter erweitert und vertieft einen intermedialen Assoziations raum von Sprache und Bild.
[1] Sigrid Hinz (Hrsg.) Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen;
Berlin 1984, S.217
[2] Der Arbeitstitel lautete: „Deutsche Landschaft japanisch“
[3] japanische Gemeinschsftsdichtung, seit Bashô (1644 -1694) meist eine Reihe
von 36 Strophen