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GRUNDKURS

BEGLEITTEXT Grundkurs – Poesie eines Lehrbuches

„Herr Schulz wurde aus dem Kreis der Studenten ausgewählt und ging nach Moskau zum Studium.“ Das wäre die Übersetzung eines japanisch abgeschriebenen Satzes aus Thomas Baumhekels Bilderzyklus „Grundkurs“. Geschrieben mit ungespitztem, schwarzem Holzfarbstift und abschließend mit dem Moskauer Kreml auf einer Briefmarke gesiegelt. 

 

Vor genau 30 Jahren erschien das erste Japanisch-Lehrbuch in der DDR, Eiko Saito/Helga Silberstein: Grundkurs der modernen japanischen Sprache; Leipzig : Verl. Enzyklopädie, 1981. Bis dahin hatten Generationen von Studenten der Japanologie an der Humboldt-Universität mit ebenfalls handschriftlichen Lektionen auf gelblichen Ormig-Abzügen diese Sprache erlernt, die sie einer fernen Kultur, einer anderen Welt und einem künftigen Berufsalltag näher bringen sollte.

Jedes Wort erscheint bewusst gesetzt, nichts ist beliebig, jeder Satz wie gemeißelt nach jahrelangem fachlichem Ringen um eine fein abgestimmte didaktische Systematik von Textprosa, Grammatik und Vokabellisten. Politische Kontrolle gepaart mit Papierknappheit hat auf ihre Weise zu dieser über 600 Seiten umfassenden Komposition beigetragen. 

 

Thomas Baumhekel, der zuletzt 2006 in der Ausstellung „Zeichensprache“ im Museum für Ostasiatische Kunst in Berlin zu sehen war mit chinesischen Zeichen auf Treibholz und auf großformatigem Papier, bringt mit der Ausstellung seiner neuen Schriftbilder nun den „Grundkurs“ an die Wiege seiner Entstehung zurück: an die Humboldt-Universität .

 

Aus der Konkursmasse eines Industriebetriebes gelangten die Lehrbücher zwar schon Anfang der neunziger Jahre zu dem Dresdener Künstler, aber erst 2009 widmete er sich zunächst den alphabetisch angeordneten Vokabeln im Lernwortschatz, verknüpfte sie mit Bildern.

Im Grundwortschatz entdeckte er den gerade aus dem historischen Abstand erwachsenden Stimmungsgehalt der einzelnen Sätze und verglich sie mit Texten der klassischen japanischen Literatur, wie dem Kopfkissenbuch der Sei Shônagon, die er ebenfalls parallel abschrieb. Mit der Poesie dieser Lehrbuchtexte erschloss sich ihm ihr Zeit übergreifender Charakter. Es sind stilistisch schöne, einfache Texte, die aus der Notwendigkeit der Vermittlung einer bestimmten Grammatik und eines Grundvokabulars entstanden sind, so wie die japanische Poesie sich stets aus einem Regelsystem von Silbenanzahl und anderen Vorgaben bzw. Traditionen emporhob.

 

1992 nach dem Diplom an der Hochschule für Bildende Künste Dresden hatte er begonnen, daoistische und buddhistische Quellentexte aus China abzuschreiben. Der Grundkurs mit der japanischen Silbenschrift (Kana) stellte für ihn innerhalb der Beschäftigung mit den asiatischen Zeichen den Bezug zur Gegenwart her. Nicht nur in der moderneren Schrift – in den Texten sah er darüber hinaus seine eigene Biografie gespiegelt. 

 

Die Lektionen vermitteln sprachlich alles, was man über einen Sehnsuchtsort, das alte Japan, seine an Tempeln und Theaterformen reiche Kultur und Kunst einschließlich Naturkatastrophen wissen muss. Gleichzeitig geben sie ein Bild der damaligen Realität wieder: „Von den Brechtstücken im Berliner Ensemble bin ich einfach begeistert“ oder „Die Entwicklung des Lebensstandards in der DDR ist bewundernswert.“ 

 

Die Kanji werden automatisch Gebilde in Baumhekels druckstarker  Handschrift mit dem ungespitzten Holzfarbstift, der das Papier aufreißt,   Briefmarken und Buchseiten verzahnt. Zeichnerische Ergänzungen, umrisshaft und geometrisch, nähern sich ihrerseits formal diesem Schriftduktus an.

Im „Grundkurs“ bekommt bei eindeutiger Aussage Herr Schulz eben eine Briefmarke aus Moskau und Herr Kremer, bei dem zu Hause immer schöne Blumen auf dem Esstisch stehen, ein Blumenmotiv aus Plauener Spitze - das Schöne im Kunstwerk stilisiert, die Predigt auf dem Geierberg. 

Die Aussage kann aber auch in einem Paradoxon oder in einer Mehrdeutigkeit bestehen. „Ich bin am Bahnhof Friedrichstraße aus der   S-Bahn ausgestiegen.“ Wer spricht hier? Bahnhof Friedrichstraße als poetischer Ort für Reise, Abschied, Ankunft, Grenze.

Und auch ein wenig Augenzwinkern ist in diesen Collagen, die mehrere Zeitschichten überlagern, einschließlich jener, die der Betrachter mit seiner individuellen Biografie einbringt. 

 

Mori Ôgais Übersetzungen gelten trotz des sprachlichen Entfremdungsgrades noch heute als besonders literarisch und waren der Suche nach sprachlicher Schönheit verpflichtet. Auch er meißelte an jedem Satz. Seine Übersetzung von „Es war ein König in Thule“ wurde von allen Nachfolgern übernommen, sie war perfekt. „...einer Zeile oder einem Schriftzeichen nachzugehen, das ist mein Leben.“ – bemerkte Ôgai seinem engsten Freund gegenüber kurz vor seinem Tod. 

Welche Zwiesprache werden die Schrift-Bilder von Thomas Baumhekel wohl mit den Ouvre des spiritus loci der Mori-Ôgai-Gedenkstätte eingehen?

BEATE WONDE

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