LINING BRICK





















EINFÜHRUNG Agnes Matthias
„Hängen die Hände zur Seite herab, gleicht er einer zehntausend Fuß hohen Felswand. Warum sollte man das Gerade und Geneigte in Ordnung bringen?“ Diese Sentenz stammt aus der Zen-buddhistischen Schrift des „Biyan Lu“, einer Sammlung von 100 sogenannter Koan aus dem frühen 11. Jahrhundert. In verdichteter sprachlicher Form finden sich in dieser „Niederschrift von der blauen Felswand“ – so eine der deutschen Übersetzungen – Aussagen alter chinesischer Zen-Meister, die in ihrer Rätselhaftigkeit zur meditativen Reflexion einladen – über die Welt des Sichtbaren wie des Unsichtbaren, ohne die Paradoxa lösen zu wollen. Thomas Baumhekel hat diese zwei kurzen Sätze in chinesischen Schriftzeichen im Jahr 2001 auf einen großen Papierbogen geschrieben, mit Pinsel, der in schwarze Tusche getaucht wurde. Zwölf Jahre später nimmt er sich dieses Blatt wieder vor. Mit der Schere zerschneidet er es in zwei Hälften und übermalt es mit einfacher, weißer Wandfarbe. Nur noch in Andeutung scheint der darunterliegende Text durch, der jetzt zum Fond für eine Zeichnung wird. Mit hartem Bleistift gezogene Linien und eine hellgrau, mit grobem Pinsel aufgetragene Fläche deuten eine geometrisch-eckige Form eher an, als dass sie sie tatsächlich definieren.
Thomas Baumhekel hat alle einhundert Sentenzen aus dem „Biyan Lu“ in den Jahren 2001 bis 2004 abgeschrieben, in Aneignung der chinesischen Kalligrafie und ihrer Philosophie. Er machte sie zu seiner eigenen Formensprache. Obgleich einen Inhalt wiedergebend, zeigten diese Blätter vor allem eines: Schrift als Bild. Die Ausführung – mal heftig-bewegt und schwungvoll, mal bewusst ungelenk und krakelig – ist zugleich Interpretation des Gelesenen, so wie die verschiedenen Übersetzungen der chinesischen Texte jeweils andere Lesarten offerieren.
So wird der zweite Satz der hier gezeigten 20. Sentenz aus dem „Biyan Lu“, die von Thomas Baumhekel nicht zerschnitten, sondern in seiner ursprünglichen Form belassen wurde, mit ganz unterschiedlichem Klang und Charakter ins Deutsche übertragen. 1960 schreibt Wilhelm Gundert: „Abends, eh´ Gewölk sich wieder schließt, gib acht: Ferne Berge ohne Ende, eine Welt Smaragd!“, Ernst Schwarz übersetzt 1999: „Schau doch hinaus ins Abendlicht, eh sich die Wolken schließen, um die azurene Kuppelwelt der Berge zu genießen“. Und Dietrich Roloff überträgt 2013 ganz frei: „Mögen auch zum Abend hin die Wolken wiederkehren – sie schließen sich noch nicht: In der Ferne Berge, ohne Grenze [hingestreckt] – grüner Jade, in Reihen tief gestaffelt“.
Das Zerteilen dieser mit solcherlei Gedichten beschriebenen Bögen, von denen hier eine Auswahl zu sehen ist, und das Auftragen der weißen Farbschicht Jahre später sind zu lesen als nachdenkliches Zurücktreten, vielleicht als ein vorsichtiges Distanzieren, nicht als radikale, ikonoklastische Geste des Negierens des Eigenen. Die durchschimmernden Zeichen des ersten oder zweiten Teils des Gedichts sind wie eine Erinnerung an das, was über einen langen Zeitraum hinweg wichtig war, aber nun zum Ausgangspunkt für Neues geworden ist. Dieses Neue ist eine Form, die zurückgeht auf merkwürdige Objekte aus Porzellan, von denen hier fünf zu sehen sind. Mal kantig-eckig, mal einseitig rund geschliffen, ist ihr vormaliger Zweck nicht mehr ablesbar. Allein eine technische, funktionale Präsenz geht von ihnen aus. Es handelt sich um sogenannte Trommelfuttersteine, deren englischer Name titelgebend für diese Ausstellung ist: Lining Brick. Sie dienten unter anderem zur Auskleidung von Trommelmühlen, die zur Aufbereitung der Zutaten für die Porzellanherstellung zum Einsatz kommen. Darin werden Kaolin, Feldspat und Quarz mit Hilfe von Mahlkugeln zerkleinert und fein gemischt. Nicht nur die Trommelfuttersteine, sondern auch die Mahlkugeln bestehen aus Porzellan, das sich im Prozess der Herstellung abreibt. Sie rollen oder drehen sich – und hier zitiere ich Thomas Baumhekel – „ihrer Auflösung entgegen“. Die Lining Bricks sind in diesem Fall Mittel, nicht Produkt der Porzellanherstellung, wenn auch ihre eigene Fabrikation demselben Vorgang unterlag. Es handelt sich also um ein Werkzeug, dem sich die Spuren seines Gebrauchs ganz unmittelbar eingeschrieben haben. Und doch haben diese Steine, so wie wir ihnen hier in der Ausstellung begegnen, ihre Bedeutung verändert. Sie werden uns nicht als Relikte industrieller Fertigungsprozesse vorgestellt, sondern als Objekte skulpturaler Qualität. Hätte sie Thomas Baumhekel in einem gleichsam archäologischen Vorgehen nicht geborgen, gereinigt, auf diese Sockel platziert, hätten wir von ihnen wahrscheinlich keine Notiz genommen. Im Sinne des von Marcel Duchamp erfundenen Ready Made überführt er einen alltäglichen Gegenstand der Arbeitswelt in die Sphäre der ästhetischen Sichtbarwerdung. Das Fundstück wird in diesem Vorgehen zum Werk. Konzeptuell schließen diese Objekte an eine frühere, 2008 entstandene Arbeit von ihm an, die „Pagoden“, die insofern erwähnt werden müssen, als hier im Zentrum steht, was mittels dieser Trommelfuttersteine produziert wurde: Isolatoren aus Porzellan, gefertigt in der Margarethenhütte in Großdubrau in der Oberlausitz. In der gerippten Form mit mehreren, übereinander liegenden Schirmen entdeckte der Künstler die formale Analogie zum asiatischen Bautyp der Pagode, einem turmartigen Gebäude, das durch vorragende Gesimse oder Dachvorsprünge charakterisiert ist. Die einfache Umbenennung veränderte die Wahrnehmung der Gegenstände und ließ zugleich den weiten Assoziationsraum aufscheinen, der sich mit der Porzellanherstellung üblicherweise verbindet. Erfunden wurde es im China des 7. Jahrhunderts und im frühen 18. Jahrhundert durch den Alchimisten und Chemiker Johann Friedrich Böttger für den porzellanbesessen August den Starken erneut kreiert. Im kostbaren Material verbindet sich die Faszination für die asiatische Kunst mit europäischen Marktbestrebungen. Thomas Baumhekel bricht dieses insbesondere im Dresdner Raum vorherrschende, besondere Ansehen des Werkstoffes – die Meißener Manufaktur ist nicht weit – in erfrischender Weise herunter auf dessen Nutzung im industriellen Bereich. Mit diesem Wissen erklären sich plötzlich die Formen, die der Künstler für sich selbst kategorisiert hat. Da gibt es die einseitig abgeschliffenen Steine, die in der Trommelmühle fest einzementiert waren. Steine, die als Mahlsteine in der Trommelmühle bewegt wurden und entsprechend allseitig abgeschliffen sind und nahezu organisch anmuten. Und dann gibt es noch die ungelaufenen Steine, die nie in der Trommelmühle zum Einsatz kamen, sondern anderweitig, zum Beispiel zum Mauern, Verwendung fanden.
Die Uneindeutigkeit der Form macht sich Thomas Baumhekel für sein eigenes zeichnerisches Werk zunutze. Was als dreidimensionales Objekt auf einem Sockel aufgestellt ist, wird in die Fläche übersetzt und verliert dabei seine Plastizität. Und doch scheint in Andeutung auf, wie sich das Objekt im Raum verhält, wobei der geschlossene, blockhafte Charakter der Leichtigkeit gewichen ist. Die Form wird nur umrissen, auf eine einfache Linienzeichnung reduziert, die Fülle in Leere, der Würfel ins Quadrat, die Kugel in den Kreis verwandelt.
Die ehemals gegebene industrielle Norm hat sich im Bruch der Linien verflüchtigt. Das Objekt ist anwesend – und doch auch wieder nicht. Die matte Haptik der geschliffenen Steine findet sich wieder im stumpfen Hellgrau der geometrischen Flächen auf dem kreidigen Weiß, die in manchen der Blätter nur scheinbar eine der Außenseite akzentuieren und sich nicht recht in den angedeuteten Körper einfügen wollen.
Zu den jüngsten Arbeiten aus dieser Folge gehört das Blatt zur 91. Sentenz aus dem „Biyan Lu“, in dem es um die „wahre Farbe“, den „wahren Klang“ geht. Einer lockeren Assoziationskette folgend setzt Thomas Baumhekel gelbe Farbtupfen auf den weißen Grund, der die chinesischen Schriftzeichen deutlich durchscheinen lässt. Sie sind auf den Kreuzungspunkten eines gedachten Rasters von horizontalen und vertikalen Linien platziert: Es entsteht ein Rhythmus, dessen Strenge durch die unterschiedliche Größe und die offenen Konturen der Punkte konterkariert wird.
Von diesem Blatt lässt sich der Bogen zu der kleinen Werkgruppe mit collagierten Papierarbeiten schlagen, die aber im formalen wie konzeptuellen Bezug zu den Lining Bricks stehen. So wie Thomas Baumhekel Farbtupfen als kleine Einheiten verteilt, arrangiert er hier Briefmarken zur geometrischen Figur des Kreises. Wie die Trommelfuttersteine sind auch die Briefmarken Fundstücke, objets trouvés, mit unterschiedlicher Farbgestaltung und Ikonografie. Gleichermaßen spielerisch wie hintergründig setzt Thomas Baumhekel sie in Kombination mit Schrift ein.
Aus der Ferne betrachtet, muten die 64 Briefmarken auf dem Blatt „Hongkong Color Queen“ wie kleine Rechtecke an, die zu einem bunten Farbkreis arrangiert wurden. Betrachtet man sie von nahem, ist auf jedem von ihnen das Konterfei der englischen Königin zu sehen. Sie sind zu jener Zeit gelaufen, als die Stadt noch britische Kolonie war. Ihnen zugeordnet ist, in einem zweiten, inneren Kreis, jeweils ein chinesisches Schriftzeichen und das es bezeichnende Hexagramm aus dem „I Ging“, dem „Buch der Wandlungen“, einem Orakelbuch oder Weisheitsbuch, dessen Ursprünge auf das 3. Jahrtausend vor Christus zurückgehen. Darin enthalten sind insgesamt 64 Hexagramme: sich von unten nach oben aufbauende Zeichen mit jeweils sechs entweder unterbrochenen Linien (Ying) oder durchgezogenen Linien (Yang), also den das Leben bestimmenden Polaritäten. Sie stehen für Bedeutungen wie „der Friede“, „die Begeisterung“ oder „die Betrachtung“. Die vielfach möglichen Kombinationen dieser Zeichen können als Ausdruck aller Möglichkeiten der Veränderung oder Wandlung gelesen werden; so bemerkte Hermann Hesse zum I Ging: „Es ist in diesem Buch ein System von Gleichnissen für die ganze Welt aufgebaut“. Die Anordnung der Briefmarken, die keinem erkennbaren formalen Prinzip folgt, geht hingegen zurück auf einen Farbforscher, Hans Peter Mayer – sein Name ist oben rechts zu lesen –, der jedem Hexagramm eine Farbe zuordnete. So ist dieses Blatt gekennzeichnet von anregender, intellektueller Vielschichtigkeit, die in einer durchaus humorvollen Herangehensweise ihre ästhetische Übersetzung gefunden hat.
Eine andere hier gezeigte Papierarbeit weist auf Thomas Baumhekels intensive Beschäftigung mit der japanischen Sprache hin; ich möchte aber mit dem Verweis auf diese jüngste Arbeit mit dem Titel „Postamt“, schließen. Hierin scheint ein neues Feld der Auseinandersetzung mit Schrift als Bild auf: Es ist das Arabische als Grundlage einer islamischen Kalligrafie, das vielleicht in nächster Zeit seine weitere künstlerische Aneignung durch Thomas Baumhekel erfahren wird.