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PAGODE

EINFÜRHUNG   Simona Schellenberger

Wie entsteht die Baumhekelsche Pagode? Die Antwort lautet: in einem assoziativ - konzeptionellen Prozess. Sie ein künstlerischer Entwurf, der von einer vorhandenen Form ausgeht und seine Wirksamkeit durch das Verknüpfen von Vorstellungen entfaltet.

 

Die vorhandene Form, das sind Fundstücke aus Porzellan, geborgen von Halden und aus dem Waldboden. Die Funde überraschen zunächst visuell und intellektuell. Denn Zusammenhänge von ursprünglichem Zweck und Gebrauch sind aufgelöst, können allenfalls vermutet werden. Und die Form stellt sich - auf ihren Wesenskern reduziert - allein als beharrlicher Ausdruck dar. Wahrnehmbar sind, neben dem regelmäßigen und präzisen Aufbau des industriell Gefertigten, Bruchkanten und Abstoßungen,
die dem Zufälligen Ausdruck verleihen. Brüche, die in formaler Analogie zu den geschriebenen Blättern von Thomas Baumhekels stehen (Ausstellungskatalog „Zerbrochenes Holz“, Leipzig 2000).

 

Die funktional bedingte fast makellose Glätte der glasierten Oberflächen - bei
den Fundstücken handelt es sich um Isolatoren - beschränkt sich allerdings auf jene Bereiche, die Stromfluss verhindern sollten. Auch das Industrieprodukt weist in Randbereichen zufällig entstandene Strukturen auf: Laufspuren der Glasur oder Orangefärbungen der nicht glasierten Stellen, die Spinellfärbung. Anders als im Experimentalraum künstlerischer Fertigungsprozesse sind sie im Kontext der industriellen Fertigung zwecklos und bleiben ohne Reflexionsraum. Die Isolatoren der Halde und des Waldes waren darüber hinaus fehlerhaft, unbrauchbar - Ausschuss. 

 

Von ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung gelöst, sind die Objekte jetzt frei verfügbar für die Betrachtung und Verwendung in einem neuen Kontext. Mit dem Wechsel der Perspektive geht eine Um- und Aufwertung einher: Gehäuft, durcheinander liegend, verborgen in den unteren Schichten der Halde - aufgerichtet (gereinigt, berührt, betrachtet), ausgewählt und erhöht in Ausstellungsräumen.

 

 Betrachten wir die Form des Objektes genauer: Über einem Sockel, einem Schaft türmen sich Schirme auf, bilden Etagen. Nähe und Ferne werden neu definiert: das Bild eines mehrschirmigen Turmes aus kostbarem Material scheint auf, mehr noch: wird evident. Eine Mikroarchitektur als Zeichen, Symbol oder Abbreviatur eines Bauwerks - einer Pagode im Konkreten, dem weithin sichtbaren Wahrzeichen buddhistischer Tempel in ganz Ostasien. Pagoden, die sich architekturtypologisch auf  die indischen Stupas zurückführen lassen, zeichnen sich durch hohe schlanke Türme aus. Sie dienen der Aufbewahrung von Reliquien und heiligen Schriften, und spielen eine zentrale Rolle bei religiösen Zeremonien des buddhistischen Kults. Nach Buddha sollen die Stupas oder Pagoden errichtet werden für die Erwachten und ihre Schüler. Zu ihren Grundelementen gehört ein altarähnlicher Aufbau an der Spitze, überragt von einem oder mehreren übereinander angeordneten Ehrenschirmen.  

Die Ehrenschirme gelten als abstrakte Nachahmung des Schatten spendenden Baumes - des heiligen Lebensbaumes, eines Sonnensymbols und im Buddhismus das Symbol der Erleuchtung. Vielleicht gilt auch dem Baum, der Form eines Baumes die erste Vorstellung des betrachtenden Gegenübers.

  

Die Baumhekelschen Pagoden sind aus Porzellan. Das Material ist geadelt durch seine Bedeutung für die Repräsentationsrituale an den absolutistischen Höfen Europas im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert. Assoziationsräume öffnen sich:
Das Experimentieren beim Entwickeln des europäischen Porzellans vor 300 Jahren, das „Arkanum“ - die geheimnisumwitterte Masse;  Exklusivität und Luxus; Exotik: die Chinamoden voller Deutungsirrtümer, der Aspekt des Zufälligen bei jenen Dingen, die Handelskompanien nach Europa brachten, deren Schiffe der Monsun über den Pazifik trieb. Nicht glasiertes Porzellan ähnelt edlem Gestein, Marmor vielleicht. Archäologische Ausgrabungen brachten antike Skulpturen in ihrer Versehrtheit, in fragmentarischem Zustand zutage. Die Bruchkanten der Isolatoren, mit letzten Spuren von Erdreich, vermögen auch diese Assoziation zu wecken.  

 

Das beleuchtet Fragen der Wahrnehmung, wirft ein Licht auf die Wirkungsweise von Museen und deren Arbeitsfelder: Sammeln, Erforschen, Präsentieren. Objekte und ganze Sammlungsbestände können eine Kontextualisierung/Dekontextualisierung erfahren.

 

Thomas Baumhekel schafft ephemere Kunsträume: ein spannungsvolles, auf die Wirkkraft des Assoziativen, des Ästhetischen und der Präsentation bauendes Objekt-Raumgefüge. Es geht dabei um das Erspüren und Reflektieren des Verhältnisses von Kunst und Natur, den fortwährenden Versuch einer Positionsbestimmung des Einzelwesens in der Welt, im Universum, um Welterfahrung. Individuell, persönlich und ausgreifend, auf den Betrachter, auf uns übergreifend. Natur- und Kunstgebilde als enzyklopädisches Ensemble waren das Thema der Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts, der Vorläufer unserer heutigen Museen. Sie umfassten Naturalia (Dinge aus den drei Naturreichen), Artificialia (Gegenstände der Kunst und des Kunstgewerbes) und Scientifica (Instrumente und Maschinen). Dabei unterscheiden sich Kunstgebilde allein durch die Art ihrer Herstellung, nicht durch Form und Wesen von den Naturstoffen. Die Künste können diese Rolle einnehmen, weil sie sich dem spielerischen Prinzip der Natur überlassen. Nach Horst Bredekamp (Antikensehnsucht und Maschinenglaube. Die Geschichte der Kunst- kammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993) zielte die Präsentations- form der Sammlungsobjekte in den Kunstkammern nicht auf Trennung und Klassifizierung. Ihre Ordnung scheint vielmehr dem intellektuellen Anspruch zu folgen, die Dinge in ein Netz assoziativen und visuellen Austauschs zu spannen, um auf spielerische Weise die äußere und innere Natur des Menschen zu erkunden. Die höchste Kategorie der Kunstkammer war das Sehen, Assoziieren und Denken als Spiel. Wie in künstlerischen Schaffensprozessen begegnet uns hier die Kategorie des Zufälligen als Bewegungsfreiheit innerhalb von Spielregeln.

 

Mit seiner künstlerischen Arbeit bringt Thomas Baumhekel in Erinnerung, was im Alltag oft vergessen oder zu selten beachtet wird: dass Wahrnehmen ein kreativer Prozess ist. Täglich sind wir konfrontiert mit der Forderung nach Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung, die uns für spezielle Tätigkeiten qualifizieren sollen. Ein vergleichsweise linearer Prozess. Aber der Geist ist bekanntermaßen dann besonders schöpferisch, wenn er sich einen Moment vom zielgerichteten Zweckdenken gelöst hat. Im Anstoßen solcher Prozesse liegt eine wesentliche Kraft der Arbeiten von Thomas Baumhekel. 

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